Ausgangspunkt für das Solo von Xavier Le Roy war die Videoaufzeichnung einer Probe von Igor Strawinskys Le Sacre Du Printemps mit den Berliner Philharmonikern.[1] Le Roy begann, die Abläufe der Bewegung und die Mimik des Dirigenten Sir Simon Rattle unter choreografischem Gesichtspunkt zu studieren. Momente daraus, die dank Kameraeinstellung und Schnitt zu sehen waren, bildeten die Grundstruktur einer Choreografie, die in Adaption von Rattles Interpretation und unter Hinzuziehung anderer Materialien zur Aneignung der Komposition einen eigenständigen dirigentischen Zugriff auf die Musik entwickelte. Le Roy untersucht in Le Sacre Du Printemps den Akt des Dirigierens als bewegt-bewegende Performance und das Verhältnis von Körperlichkeit und Klangerlebnis.
Der Tänzer steht den Zuschauern frontal gegenüber. Die Anordnung der Theaterbestuhlung entspricht der Anordnung der Musiker im Orchester. Diese räumliche Setzung wird durch ein 48-teiliges Lautsprechersystem verstärkt, das liegend, stehend, auf dem Boden und direkt unter den Sitzen so angebracht ist, dass für jeden der 120 Zuschauer der jeweilige Klangeindruck an der entsprechenden der 120 Positionen im Orchester wiedergegeben werden kann.
Le Roy performt den physischen Vorgang des Dirigierens zu der betreffenden Probeneinspielung des Sacre vom Band, wobei er an wenigen Stellen die fragile Illusion des Playback-Dirigats bricht und als solche aufzeigt. Dabei zerlegt er den Gesamtzusammenhang der Klangerzeugung als sinnlich-körperlichen Vorgang in seine Verantwortlichkeiten und Bestandteile. Diese werden als Aspekte von Produktivität und Rezeptivität erfahrbar, bleiben dabei aber miteinander verbunden und aufeinander bezogen. Die freigestellte expressive Theatralik in der eigentlich so funktionalen gestischen Arbeit des Dirigenten wird als Form und Bewegung aufgegriffen und zu der Passivität des Publikums in ein Spannungsverhältnis gesetzt. Der Performer-Dirigent bespielt mit seinen fordernden Gesten seinen fiktiven Klangkörper. Bei voller Beleuchtung adressiert Xavier Le Roy die einzelnen Instrumente direkt und fordert mit suggestivem Augenkontakt und autoritären Winks Einsätze ein, die der jeweilige Zuschauer nicht zu geben vermag, die aber dennoch automatisch aus den Unter-Sitz-Lautsprechern tönen.
Unvermeidlich spielt die Wahl von Le Sacre Du Printemps auf einen der berühmtesten Skandale der Tanzgeschichte an: Bei der Uraufführung des Werkes durch die Ballets Russes 1913 in Paris in der Choreografie von Vaslaw Nijinsky provozierte die doppelt verstörende, neuartige Dynamik von Musik und Tanz Befürworter und Gegner im Publikum zu Handgreiflichkeiten.
Xavier Le Roys sachliche Auseinandersetzung interessiert sich allerdings mehr für das Stück als ein Untersuchungsfeld für die komplizierte Wechselwirkung von Auslöser und Effekt in der Live-Situation einer Theater- und Musikperformance. Über seine Beschäftigung mit Musik als performative Praxis hinaus, die er in einer Reihe von Stücken, teils mit professionellen Musikern als Performern, seit 2005 vorangetrieben hat, erkundet Le Roy in Sacre die gegenseitige Affizierung von Performer und Publikum und das Oszillieren ihres Verhältnisses zwischen Machtausübung und Abhängigkeit, Suggestion und Widerstand.
[1] Die verwendete Aufnahme ist als Bonus-Track der DVD-Edition des erfolgreichen Dokumentarfilms Rhythm is it! (DE 2004) beigefügt.