Technische Klang-Bild-Transformation

6 Lissajous-Figuren – Bilder aus Klang

Die Basis der analog-elektronischen Audiovisualität ist das Signal, das über Lautsprecher und Bildröhren simultan sichtbar und hörbar gemacht wird. Entscheidend für das elektronische Bild ist das Prinzip der orthogonalen Überlagerung zweier Schwingungen. Jeweils eine Wellenform wird auf der Abszisse und auf der Ordinate angetragen und spannt so die Bildfläche auf. Die spezifische Zusammensetzung der Signale kann auf unterschiedliche Weise erfolgen, was schon die zahlreichen verschiedenen Videoformate zeigen. Prinzipiell lassen sich mit der Bildröhre jedoch beliebige Wellenformen darstellen. Gemeinsam ist diesen Bildformaten, dass sie den Gesetzen der allgemeinen Schwingungslehre unterliegen, was sie mit älteren Bildtypen vergleichbar macht.

Im Jahr 1815 beschrieb der Mathematiker Nathaniel Bowditch erstmals Funktionen der senkrechten Überlagerung harmonischer Pendelschwingungen. Infolge dieser Entdeckung wurden verschiedenste mechanische Instrumente zur Erzeugung solcher Bowditch Curves konstruiert, darunter zahlreiche sogenannte Harmonographen[26] und Charles Wheatstones Kaleidophon (1827) zur direkten Beobachtung von Schwingungsmustern aus Licht an klingenden Metallstäben. Bekannt wurden die Kurven schließlich als Lissajous-Figuren, da Jules Antoine Lissajous sie im Jahr 1857/1858 im Rahmen akustischer Experimente zum Schwingungsverhalten von Festkörpern untersuchte. Im Zuge der Erfindung elektronischer Bildgebungsverfahren im Jahr 1897 durch Karl Ferdinand Braun wurden Schwingungsverläufe auch an elektrischen Signalen beobachtbar. So wurde das Oszilloskop als physikalisches Messinstrument zur Bestimmung von Wechselspannungen entwickelt.

Wie auch bei der Übertragung optischer Muster in Klang durch den Lichtton handelt es sich bei der elektronisch erzeugten Audiovisualität um ein spezifisches Wechselverhältnis von medialer Operativität und Prozessen der Wahrnehmung. Die senkrechte Überlagerung der Schwingungsvorgänge als zweidimensionale Darstellung, die uns akustische Vorgänge im elektronischen Bildmedium überhaupt erst visuell zugänglich macht, stellt immer schon eine Interferenz zweier Signale dar, die den Bildpunkt in je eine Richtung ablenken – horizontal und vertikal. Zudem erscheint die Schwingungsbewegung einer Lissajous-Figur oberhalb der Verschmelzungsfrequenz des menschlichen Auges (ca. 18 Hz) statisch, wobei das menschliche Gehör spektrale Anteile unterhalb dieser Frequenz nicht wahrzunehmen vermag. Somit repräsentiert eine Lissajous-Figur keine bestimmte Frequenz und es besteht keine eindeutige Entsprechung von Tonhöhe und Figur. Vielmehr sind Beziehungen wie Frequenzverhältnisse (Intervalle) und Phasenrelationen im niedrigeren Frequenzbereich Faktoren, welche Klang und Bild vergleichbar machen. Abhängig von der Komplexität des audiovisuellen Wahrnehmungsangebots kommt es zu bestimmten Konvergenzen zwischen medientechnischen und wahrnehmungsbezogenen Aspekten. Für einen ästhetischen Umgang mit elektronischer Audiovisualität scheinen gerade diese Schnittpunkte reizvoll zu sein, um den Blick auf die Medialität, die Gemachtheit der Übertragung, freizulegen. Intuitiv nachvollziehbare Konvergenzen ergeben sich beispielsweise aufgrund der exakten Simultaneität von Klang und Bild, welche durch die analoge elektromagnetische Kopplung in einer Präzision gewährleistet ist, die in digitalen Kopplungssystemen unerreichbar bleibt. Gleiches gilt für die Vergrößerung der Figuren bei höheren Pegeln, verursacht durch den höheren Amplitudenausschlag. Schließlich entspricht auch die wachsende Komplexität der Lissajous-Figuren bei komplexer werdenden harmonischen Schwingungsverhältnissen dem Höreindruck. Entsprechungen dieser Art werden beim algorithmischen Parameter-Mapping digitaler audiovisueller Systeme häufig simuliert.

Die elektronische Bildsynthese wurde als ästhetisches Verfahren zunächst im älteren Medium Film erprobt, der sich in den 1930er Jahren bereits als abstrakte Kunstform etabliert hatte. Mary Ellen Bute[27] und in den 1950er Jahren auch Hy Hirsh sowie Norman McLaren integrierten Lissajous-Figuren in ihre animierten Bilder, indem sie Oszilloskopschirme abfilmten. Die Möglichkeiten der geometrischen Bildsynthese stießen darüber hinaus auch auf Interesse bei Vertretern der Op-Art, kinetischen Kunst und frühen Computergrafik.[28] Die Kathodenstrahloszillographie wurde zudem bei Musikvisualisierungen in den elektronischen Studios in Berlin von Fritz Winckel (1960er Jahre) und in Paris von Pierre Schaeffer (La Trièdre Fertile, 1975) erprobt.[29] Weiterhin nutzte Reynold Weidenaar analoge Synthesizer und Oszilloskope für audiovisuelle Kompositionen (1979) und Bill Hearns Videosynthesizer VIDIUM (1969), ein speziell für diesen Zweck modifizierter Audiosynthesizer, ermöglichte die gezielte Synthese komplexer Lissajous-Figuren. Aufgrund der trägheitslosen Kopplung der elektronischen Klang- und Bildsignale wurden Kathodenstrahlröhren von Nam June Paik und David Tudor für den partizipativen bzw. performativen Live-Einsatz nutzbar gemacht. Paiks Experimente mit der audiovisuellen Kopplung von Fernsehgeräten, Tonbandmaschinen und Mikrofonen in seiner ersten Einzelausstellung Exposition of Music – Electronic Television 1963 gelten als der notorische Beginn der Videokunst. In Zusammenarbeit mit Lowell Cross realisierte David Tudor 1966 anlässlich der 9 Evenings: Theatre and Engineering das Stück Bandoneon! (a combine), bei dessen Aufführung bereits mehrere audiovisuelle Transformationsverfahren zum Einsatz kamen. Für den Pepsi-Cola Pavillion der Expo 1970 in Osaka entwickelten Tudor und Cross zusammen mit dem Physiker Carson D. Jeffries ein multiples Ablenkungssystem für Laserstrahlen, welches nach denselben Prinzipien wie bei der genannten elektronischen Bilderzeugung operiert. Mit einer hybriden analog-digitalen Kopplung erweiterte schließlich Robin Fox in seiner Videoserie Backscatter (2004) die Möglichkeiten der Synthese von Lissajous-Figuren und experimentiert, wie auch der Medienkünstler Edwin van der Heide[30], in jüngster Zeit verstärkt mit Ablenksystemen für Laser-Sound-Performances. Fox überschreitet mit seinen audiovisuellen Performances die Grenzen der auf eine Leinwand zentrierten Projektionssituation, indem er die mit Kunstnebel gefüllten Räume, in denen die Laserperformances stattfinden, als Projektionsvolumina bespielt. Erneut erweisen sich Moholy-Nagys vorausschauende Überlegungen als zutreffend, denn bereits 1936 räumte er in seinem Aufsatz probleme des neuen films ein: es ist auch durchaus denkbar, dass rauch oder dunstgebilde gleichzeitig von verschiedenen projektionsapparaten getroffen werden oder dass an den schnittpunkten der verschiedenen lichtkegel lichtgestalten sich bilden.[31]

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