Audiovisuelle Montage

4 Semiotische Aspekte der A/V-Montage

Michel Chion hat sich in seinen Arbeiten zum Sound im Film, vor allem aber in Audio-Vision intensiv mit semiotischen Aspekten von Klang-Bild-Beziehungen beschäftigt, dabei zentrale Aspekte herausgearbeitet und entsprechende Begrifflichkeiten geprägt. So ersetzte er die hinsichtlich Filmmusik häufig unpräzise eingesetzte Differenzierung zwischen Kontrapunkt und Underscoring und unterscheidet stattdessen zwischen unemphatischem Klang und emphatischem Klang.

Als emphatischen Klang bezeichnet Chion Musik oder Sound-Effekte, deren Stimmung mit der Atmosphäre der Situation zusammenpasst – vom Kuss zu sanfter Streichermusik über den Mord zu Industriegeräuschen bis hin zu Motorrädern mit E-Gitarren-Rock und Robotern mit Servogeräuschen. Unter unemphatischem Klang zu einer Bildmontage im Zeitverlauf versteht Chion hingegen Musik oder Sound-Effekte, die eine Indifferenz oder Dissonanz zum Filmplot ausdrücken. Die mit einem Horror-Sound aus dem Fernseher untermalte Liebesszene auf der Couch (z. B. in John McNaughtons Mad Dog and Glory, US 1993) ist demnach genauso als unemphatischer Klang zu verstehen wie fröhliches Kindergelächter und Vogelgezwitscher zu Bildern eines düsteren Friedhofs. Die vermeintliche Idylle eines kitschigen Vorgartens bekommt eine dunkle Vorahnung, wenn die emphatisch rührselige Streichermusik zunehmend durch kreischende E-Gitarren oder dissonante, düster werdende Musik angereichert wird (wie z. B. in David Lynchs Blue Velvet, US 1986).[22] Dabei ist der unemphatische Klang eine sehr häufig anzutreffende audiovisuelle Beziehung, als echter Kontrapunkt im Sinne einer gleichwertigen und unabhängigen Gestaltung von Ton- und Bildebene wird sie aber nur sehr selten eingesetzt. Exemplarisch für eine solche eigenständige Führung beider Stimmen stehen Slátan Dudows Kuhle Wampe (DE 1931/1932) mit der Musik von Hanns Eisler, die einen kontrastiven Gegenpart zu den Bildinhalten bildet, oder auch John Smiths Film Blight (UK 1996), in dem Montage und Sound Design als zwei komplementäre Schichten einer Komposition aufgefasst werden.

Unter Diegetic Sound, oft auch als Source Sound bezeichnet, versteht man grundsätzlich jenen Sound. Nondiegetic Sound hingegen entstammt einer externen Klangquelle, weshalb man auch von Extra-diegetic Sound spricht.[23] Eine Blaskapelle, die durch ein Bild läuft, liefert den O-Ton, also den diegetischen Klang, auch wenn sie aus dem Bildrand ins Off läuft. Wenn Martin Sheen in Apocalypse Now zu Beginn aus seinem Hotelfenster durch die Jalousie auf die Straße blickt, sieht man zwar keine Blaskapelle, hört sie jedoch leise von draußen, sobald er vom Fenster zurück in den Raum tritt. Die Musik der Blaskapelle ist dann ein nondiegetischer Sound, der wie eine Atmo wirkt. Filmmusik, wie die schon erwähnte Musik der Doors, ist in der Regel als nondiegetisch klar erkennbar. Das im Bild sichtbare Stapfen eines Dinosauriers in Jurassic Park (US 1993, R: Steven Spielberg) liefert hingegen einen diegetischen Sound, selbst wenn es sich bei diesen Geräuschen um Foley Sound handelt. Sauriergeräusche sind bekanntlich nicht reproduzierbar, sondern nur repräsentativ hinzumontiert, stehen aber gleichwohl in einem logisch-diegetischen Kausalverhältnis zum Bildgeschehen. Diegetisch und nondiegetisch haben also zunächst einmal nichts mit Off und On zu tun; diegetische Töne können sowohl dokumentarisch authentischen O-Ton als auch fiktional artifiziellen Foley als Ursprung haben. Chion bestimmt auch die als diegetisch und non-diegetisch bekannten Beziehungen von Ton und Bild neu. Er verwendet im Hinblick auf nondiegetische Filmmusik (Score-Musik) den Begriff des akusmatischen Klangs und überträgt diesen auch auf das Voice-over, das er als Akusmeister benennt.[24]

Das Wahrnehmungsphänomen der Synchrese wiederum forciert nur die Evidenz der Zugehörigkeit der Töne zu den Bildern. Daher kann man auch für die Zuordnung der Bilder und Töne eine Matrix aufstellen, die zwischen syntop (zum Film-Raum gehörig) und synchron (zur Film-Zeit gehörig) unterscheidet. Es kann aber auch Töne innerhalb einer Szene geben, die im ersten Moment weder das eine noch das andere sind. Hierfür sei als Beispiel wieder der Anfang von Apocalypse Now genannt: Während wir Martin Sheen auf dem Bett liegen sehen, berichtet seine Erzählstimme als Voice-over (VO) in einer Art innerem Monolog vom Dschungel. Dazu hören wir die Geräusche von Vögeln und das Zirpen von Grillen (mehrfach vom Sound Designer Walter Murch übereinanderkopiert), welche die vorangegangene Straßen-Atmo und Musik ablösen. Die Klangkulisse des Dschungels suggeriert dadurch einen Erzählort und eine Erzählzeit, die mit dem tatsächlichen Schauplatz, dem Set der Szene, nichts zu tun haben, also nondiegetisch aus dem Off kommen – aus der Erinnerung des Protagonisten. Daher könnte die Klangebene auch als mentaler Internal Sound verstanden werden und dann wiederum zum Handlungsort, dem Figurenkörper des sich Erinnernden, als doch syntop und synchron zugeordnet werden.

Chion führt in diesem Zusammenhang die Begriffe der internen und externen Logik ein. Unter externer Logik in einer audiovisuellen Montage versteht er die Logik, durch die der Klangfluss auch plötzliche und nicht aus dem Bild gespeiste Effekte beinhalten kann. Dies funktioniert durch Kenntnis von Situationen und Umgebungen. Es reicht beispielsweise die Bildinformation Großstadtstraße, Schnitt, Hotelzimmer innen, um nicht sichtbare Polizeiwagen, Hubschrauber, Züge, Autos, Straßenbahnklingeln usw. glaubhaft als Kulisse einzusetzen. Ebenso genügt die Bildinformation Lautsprecher in einem Raum als Begründung dafür, dass jede Form von Musik oder Sprachinformation in diesem Zimmer hörbar sein kann. Als interne Logik begreift Chion demgegenüber die Logik, durch die der Klangfluss aus einer narrativen Situation selbst motiviert ist: Ein Protagonist betätigt beispielsweise einen Schalter, der das Fahrgeräusch eines Industriekrans auslöst, den man im Dunkel der Industriehalle nicht sieht. Oder er spricht in ein Telefon und wir hören die Antwort des imaginären Dialogpartners, der aber nicht gezeigt wird.[25]

Darüber hinaus entsteht laut Chion durch die Verbindung von Bild zum Klang und von Klang zum Bild ein addierter (hinzugefügter) Wert. Er bezeichnet damit den Ausdrucks- oder informativen Wert, mit dem Ton ein Bild oder umgekehrt anreichert.[26] Dass eine Waffe gefährlich wirkt, liegt demnach vor allem an ihrer metallischen, schweren Klanglichkeit und im Falle eines Schusses an der Wucht und Dynamik sowie an den Bass-Anteilen des Knallgeräuschs.

Neben über solche psychoakustischen Effekte hinzugefügten Informationen wird zusätzlicher Sinn überwiegend über verbale Äußerungen in die Bilder eingeschrieben. So wird eine Warteschlange in einem Flughafen ganz anders mit Bedeutung aufgeladen, wenn man durch die Lautsprecher eine Terrorwarnung hört, als wenn nur die Aufforderung mitgeteilt wird, die Reisenden mögen sich zum Gate begeben. Gleiches gilt für Informationen aus einem Autoradio in einem Roadmovie. Hört man in den Nachrichten, dass es in der Gegend einen Serienmörder gibt, der als Tramper in die Autos seiner Opfer steigt, gibt das den Bildern einen ganz anderen Gehalt, als wenn ein Sprecher den nächsten Countrysong anmoderiert.

Gerade dieses Phänomen des Added Value verdeutlicht, wie sehr die filmische Bedeutungskonstruktion von der Verknüpfung von Sound und Bild abhängt.

In den vielfältigen Verflechtungen und Wechselwirkungen technischer, wahrnehmungsbezogener und semiotischer Aspekte liegt daher ein weitgefächertes und nuanciertes Gestaltungspotenzial. Doch damit eine stimmige emotionale, rhythmische, dramaturgische und narrative Wirkung beim Filmerleben der Zuschauer erzielt wird, ist paradoxerweise sowohl ein strategisches und kalkuliertes Auseinanderhalten der Bild- und Tonebenen als auch ein gezieltes Zusammenführen in der Montage und Mischung nötig. Das Hineintauchen in den Film wird durch die Klangwelten, die im Kino die Zuschauer umspülen, noch viel intensiver.

Die Diskussion der Diegese in der Filmtheorie rekurriert auf den Begriff von Etienne Souriau vom Anfang der 1950er Jahre, der Diegese als Analysekategorie nutzte, um damit den Kosmos und die daraus resultierende Wirklichkeit einer Erzählung modellhaft zu umschreiben. (Britta Hartmann, Hans J. Wulff, »Alice in den Spiegeln: Vom Begehen und Konstruieren diegetischer Welten.«, in: montage AV, 16, 2, 2007, S. 5). Seitdem bezeichnet der Begriff in der Filmtheorie die raumzeitlichen Beziehungen der erzählten Welt mit den darin handelnden Figuren als filmisches Universum. Diegese wird nicht genrespezifisch, sondern insgesamt bei den unterschiedlichen Filmgattungen zur Analyse von Phänomenen eingesetzt, wobei natürlich außerfilmisches Wissen einfließt. Und tatsächlich kann man mit Peter Ohler durchaus behaupten, dass ›generelles Weltwissen‹, ›narratives Wissen‹ und ›Wissen um filmische Darbietungsformen‹ ineinander greifen müssen, um die Konstruktion der Diegese überhaupt möglich zu machen. Das heißt auch, dass Zuschauer aktiv werden, um Zusammenhänge zwischen physikalischer Welt, Wahrnehmungswelt, sozialer und moralischer Welt herzustellen. (Hans J. Wulff, »Schichtenbau und Prozesshaftigkeit des Diegetischen«, in: montage AV, 16, 2, 2007, S.13).  
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