Synästhesie, ein neurologisches Phänomen

8 Synästhesie als perzeptuelles Phänomen

Wie synästhetische Wahrnehmungen zustande kommen, ist bis heute nicht hinreichend geklärt. Durch psychophysikalische Experimente wurde zumindest nachgewiesen, dass es sich bei der synästhetischen Wahrnehmung um ein perzeptuelles Phänomen handelt, da durch synästhetische Farben gewisse Wahrnehmungseffekte erzeugt werden können. Ordnet man z. B. Zweien dreiecksförmig zwischen lauter Fünfen an, so sieht ein Farb-Graphem Synästhetiker das Dreieck sofort, da es sich farblich abhebt (Pop-out-Effekt), wohingegen Nicht-Synästhetiker nur ein Gewirr von Ziffern erkennen (siehe Abb. 1). Ob die geometrischen Formen wirklich herausspringen oder ob Synästhetiker nur besser in dieser Aufgabe sind, ist noch nicht endgültig geklärt. Lässt man Synästhetiker nach einer Zahl zwischen anderen Zahlen suchen (z. B eine Zwei in lauter Fünfen), so ist die Zeit, die sie benötigen, um die Zahl zu finden, abhängig von der Anzahl der insgesamt präsentierten Zahlen (Edquist at al. 2006). Dies deutet darauf hin, dass die Farbe der Zahl nicht herausspringt, sondern die Synästhetiker wie auch die Nicht-Synästhetiker alle Zahlen durchgehen müssen, bis die gesuchte Zahl gefunden wird.

Auch lässt sich ein synästhetischer Stroop-Effekt provozieren, wenn Synästhethiker mit farbigen Wörtern konfrontiert werden (Bergfeld-Mills et al. 1999). Durch den Konflikt zwischen der Eigenfarbe der Wörter und der Farbe der synästhetischen Reaktion benötigen sie mehr Zeit, um die tatsächlich gezeigte Farbe auszuwählen und zu benennen. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass die synästhetische Farbwahrnehmung automatisch und unwillkürlich auftritt, also nicht unterdrückt werden kann.

Mattingley konnte allerdings zeigen, dass eine Präsentation von Farben, die so kurz (28 bzw 56 ms) erfolgt, dass sie nicht wahrnehmbar ist (Priming), keine farbigen Photismen auslöst (Mattingley et al. 2006). Dies weist darauf hin, dass für die synästhetische Farbgenerierung bewusste Wahrnehmung nötig ist.

Ob synästhetische Empfindungen dagegen Aufmerksamkeit benötigen, ist strittig. Indem Mattingley Synästhetiker durch eine schwere Aufgabe ablenkte, konnte er weiterhin nachweisen, dass Aufmerksamkeit die synästhetische Wahrnehmung modifiziert. Ramachandran stellte dagegen fest, dass die Farbgenerierung auch ohne Aufmerksamkeit möglich ist. Er benutzte dazu den sogenannten crowding task, bei dem Zahlen, die von anderen Zahlen umgeben sind, im peripheren Sehfeld erscheinen und von den Versuchspersonen benannt werden müssen. Nicht-Synästhetiker erwiesen sich – wegen eingeschränkter Aufmerksamkeitsressourcen im peripheren Sehfeld – als nicht in der Lage, die Zahl in der Mitte zu identifizieren, wohingegen Synästhetiker die Zahlen anhand ihrer synästhetischen Farbe erkennen konnten, obwohl die Zahl nicht bewusst und ohne Aufmerksamkeit identifiziert wurde (Ramachandran und Hubbard 2003).

Weiterhin wurde ermittelt, dass Farbwahrnehmung kontextabhängig ist. So hat z.B das Zeichen I in Gegenwart anderer Buchstaben die Farbe des Buchstaben I, in der Gegenwart von anderen Zahlen jedoch die Farbe der Zahl 1.

Abb. 1: Verändert nach Ramachandran et al. 2003: Figur aus Zweien in zufällig angeordneten Fünfen A) aus Sicht eines Nichtsynästhetikers B) eine mögliche Sichtweise eines Synästhetikers.

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