Musikvideo

8 Die aktuelle Krise: Neue Formate und Distributionskanäle

Hinter der gegenwärtig konstatierten angeblichen Krise des Musikvideos stehen tatsächlich zwei voneinander zu unterscheidende, aber miteinander verbundene Problematiken. In beiden Fällen hat das Internet daran einen entscheidenden Anteil. So erlebte die Plattenindustrie, u .a. aufgrund der Möglichkeit, Musik mehr oder weniger kostenlos über das Internet zu beziehen, in den späten 1990er Jahren einen weiteren ökonomischen Einbruch, der dazu führte, dass die Budgets für Musikvideos extrem gekürzt wurden. Ebenfalls durch das Internet verlor zugleich das Musikfernsehen seine Monopolstellung, da es nun möglich war, Clips direkt anzusteuern, anstatt – wie bisher z. B. bei MTV – darauf warten zu müssen, bis ein bestimmter Clip gezeigt wird (damit lässt sich in gewisser Weise eine Rückkehr zu den visuellen Jukeboxes konstatieren, bei denen die einzelnen Filme ebenfalls direkt ausgewählt werden konnten).

Die Verlagerung der Distributionskanäle von Musik wirkte sich auch auf die von Musikvideos aus und brachte aufgrund bestimmter medialer Voraussetzungen zudem neue Formate hervor. So werden Musikvideos vermehrt im Format audiovisueller Handy-Klingeltöne, sogenannter Machinima (Filme, die mit Hilfe von Game-Engines hergestellt werden) oder im Internet (vgl. z. B. die Interplattform YouTube) rezipiert. Dabei wird den jeweiligen Rezeptionsbedingungen (z. B. der geringeren Bildqualität) durch eine entsprechend reduzierte Komplexität des Bild-Musik-Text-Verhältnisses Rechnung getragen. Die schmaleren Budgets für Musikvideos haben zudem zur Folge, dass in diesem Bereich verstärkt ästhetisch weniger aufbereitete Wiedergaben oder simulierte Darstellungen von (Live-)Auftritten anzutreffen sind. Angesichts dessen tritt eine der Grundfunktionen des Clips – der Ersatz für eine Live-Performance – wieder stärker hervor, wie dies z. B. im 2005 von Mark Romanek gedrehten Clip zu Speed of Sound von Coldplay der Fall ist.

Zugleich lässt sich die Fortdauer einer gewissen innovativen Vitalität des Musikvideos daran ersehen, dass dieses inzwischen auch aus seinem veränderten Präsentationsumfeld kreative Impulse zu ziehen vermag: Ließ Regisseur Walter Stern in dem Video zu The Prayer von Bloc Party (2006) das Trägermedium des Clips, den Film, scheinbar heiß laufen und schließlich in Flammen aufgehen, setzen Regisseure wie Ray Tintori (in dem Video zu Evident Utensil von Chairlift) oder Nabil Elderkin (in dem Clip zu Kanye Wests Welcome to the Heartbreak, beide 2009) die Bildstörungen und -verzerrungen, wie sie bei fehlerhaften Datenübertragungen im Netz entstehen, im Rahmen des sogenannten Datamoshings bewusst als ästhetische Stilmittel ein.

Darüber hinaus fördern die Verfügbarkeit digitaler Tools und die Ausbreitung von Internet-Plattformen wie YouTube die Aktualisierung und Neukombination bereits bekannter Techniken, indem das traditionelle Verfahren des Mashings nun z. B. auf die bei YouTube eingestellten, selbstgedrehten Clips gewöhnlicher Nutzer angewendet wird. Unter Rückgriff auf die Idee Matthew Cullens, der für seinen Clip zu Pork and Beans von Weezer (2008) YouTube-Berühmtheiten zur Teilnahme an seinem Video eingeladen hatte, verwendete der israelische Musiker Kutiman für sein Projekt Thru You nun direkt Ausschnitte aus YouTube-Videos als Samples und mischte sie zu neuen audiovisuellen Kompositionen ab.

Daneben gibt es Ansätze, das Musikvideo durch die Verknüpfung mit Software-Anwendungen zu erweitern. Beispielhaft dafür sei Erik Schneiders Projekt Choose (2005–2007) genannt, in dem er auf Grundlage eines vvvv-Patches eine interaktive Clip-Struktur entwickelt hat. Andere Regisseure nutzen die Möglichkeiten der digitalen Bildmanipulation, um neue Spielräume für innovative Bild-Ton-Verknüpfungen zu erschließen, die zugleich die damit einhergehende zunehmende Virtualität der Bildwelten vor Augen führen, wie Michel Gondry in seinem Video zu Star Guitar der Chemical Brothers eindrücklich demonstriert. Hier wird ausgehend von realen Aufnahmen durch nachträgliche Bearbeitung der Bildelemente jedem musikalischen Ereignis ein visuelles Objekt zugeordnet, ohne dass dies jedoch auf den ersten Blick wahrnehmbar wäre.

Die ästhetischen Innovationen des Musikvideos durch Experimentatoren wie Gondry haben inzwischen im Kino vermehrt Anwendung gefunden, nicht zuletzt auch wegen der Abwanderung vieler Clip-Regisseure in den Filmbetrieb. Dort prägen die Clips ganze Filmsequenzen und begründen neue narrative Formen. Schon bei den Scopitones hatten einzelne Regisseure, wie z. B. Claude Lelouch, ihre dort gesammelten Erfahrungen in die Filmarbeit eingebracht; andere Regisseure, wie z. B. Chris Cunningham, haben sich inzwischen erfolgreich im Kunstbereich etabliert.

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